Yoga und Trauma

aus „Yoga Aktuell“ Feb/März 2015
von Melanie Müller

Ein Trauma erschüttert den Menschen bis in sein Innerstes.

Yoga kann einen wertvollen Beitrag dazu leisten, Verwundungen zu heilen und die Schatten der Vergangenheit zu verwandeln. Dazu muss er allerdings an die Bedürfnisse der Betroffenen angepasst werden.

Unsere Lebensgeschichte ist in unserem Körpergespeichert. Die Angst vor einem cholerischen Chef zeigt sich nach einiger Zeit in schützend hochgezogenen Schultern. Unsere Augenwinkel verraten irgendwann, wie gerne und wie oft wir lachen. Auch traumatische Erfahrungen „stecken uns in den Knochen“. Es ist der Körper, der manchmal nach einer schweren seelischen Verwundung in der Vergangenheit verhaftet bleibt. Und genau deshalb führt auch der Weg zur Heilung über den Körper.

Als traumatisch können Situationen bezeichnet werden, in denen wir uns als völlig überfordert und hilflos erleben. Angesichts einer wahrgenommenen Bedrohung schlägt zunächst unsere Amygdala, das Angstzentrum des Organismus, Alarm und löst unser physisches „Notfallprogramm“ – Fight-or-Flight (kämpfen oder flüchten) – aus. Gelingt eines von beiden und damit auch die Bewältigung der Situation, kommen wir vielleicht mit einem Schrecken davon. Können wir aber weder entkommen noch kämpfen („no fight, no flight“), bleibt nur die Erstarrung bzw. der Totstellreflex (freeze). Unser Organismus reagiert dabei auf totale Ohnmacht mit Immobilität und Taubheit oder spaltet bestimmte Persönlichkeitsanteile ab, damit das Unerträgliche erträglicher wird (z.B. Trennung von Verstand und Gefühl).

Während das Ereignis irgendwann wieder vorbei ist, bleibt das Aufregungsniveau in unserem Nervensystem konstant erhöht. Obwohl sich die Welt im Außen verändert, das Leben weitergeht, bleiben der Körper und das Erleben des Betroffenen im Moment des Traumas und einer – zunächst normalen und angemessenen – Antwort darauf „stecken“. Das kann sich auf verschiedenste Art und Weise ausdrücken:
in dramatischen körperlichen Reaktionen auf so genannte „Trigger“ (Sinnesreize, die an die traumatische Situation erinnern), z.B. in Erbrechen, Zittern, Schwitzen oder Taubheit, in belastenden Träumen und Flashbacks – aber auch in einem latenten Gefühl von Überforderung oder Burnout, unsicheren Grenzen und einer fehlenden Verbundenheit mit unserem Körper und der Welt. Die lähmende Taubheit wird von einem Notfallprogramm zum Lebensgefühl.

Trauma hat viele Gesichter

Nicht immer liegt einem Trauma eine einzelne schockierende Erfahrung (Monotrauma) zugrunde, wie z.B. eine Vergewaltigung, Kriegs- und Gewalterlebnisse, ein schwerer Unfall oder ein tragischer Verlust. Auch lieblose, suchtkranke oder abwesende Eltern sowie die wiederholte Erfahrung, als Kind hilflos ausgeliefert oder völlig überfordert zu sein, können dazu führen, dass wir dem Leben nicht mehr mit Vertrauen und Offenheit begegnen können (Entwicklungstrauma). Die alten Wunden können jederzeit wieder aufbrechen, wenn etwas an die traumatisierende Situation erinnert – ein Geräusch, ein Geruch, ein Gefühl, eine harmlose Geste. Die Folgen sind weitreichend und betreffen das gesamte Leben der Betroffenen. Die Fähigkeit, mit sich oder anderen in Kontakt zu sein, wird beeinträchtigt. Der Körper wird als unberechenbar, feindlich und als Quelle von Schmerz und Leid wahrgenommen. Die Gefühlswelt von traumatisierten Personen ist häufig von Scham, Schuldgefühlen, Ängsten, Misstrauen und einer starken Neigung zur Selbstkritik geprägt. Da der Körper stets in erhöhter Alarmbereitschaft bleibt, steht dem gesamten Organismus weniger Energie zur Verfügung, was sich in Erschöpfung und einem ständigen Gefühl der Überforderung ausdrücken kann.

Die Chance liegt im Wachstum

Doch wie in jeder Erfahrung liegt auch in einem Trauma eine Chance zur Entwicklung – auch wenn sie zunächst schwer zu erkennen sein mag. Bereits Viktor Frankl, der berühmte Psychiater und KZ-Überlebende, wies darauf hin, dass Leiden zum wertvollen Reifungsprozess werden kann. Seit den 1990er Jahren gibt es den Begriff des „posttraumatischen Wachstums“. Studien belegen inzwischen, dass die aktive Bewältigung eines Traumas dazu beitragen kann, dem Leben und der eigenen Person mit größerer Wertschätzung zu begegnen (z.B. indem man sich als Überlebender, nicht als Opfer wahrnimmt), die eigene Perspektive und seine Handlungsspielräume zu erweitern und zwischenmenschliche Beziehungen bewusster zu gestalten. „Hier offenbart sich die Doppelnatur des Traumas“, schreibt der Traumaforscher und Therapeut Peter A. Levine in seinem Buch „Sprache ohne Worte“. „Zum einen die zerstörerische Kraft, seinen Opfern die Lebensfähigkeit und -freude zu nehmen. Das Paradoxe am Trauma ist jedoch andererseits, dass es auch die Macht zu Transformation und Wiederauferstehung birgt.“

Yoga kann eine wunderbare Unterstützung auf diesem Weg sein, denn er bietet einen großartigen Schatz an Übungen, um die eigene Spürfähigkeit wieder zu erhöhen und eine Beruhigung des Nervensystems zu erreichen. Von der Einsamkeit und Getrenntheit führt Yoga Schritt für Schritt wieder in die Verbundenheit. Aus der Vergangenheit holt er ins Hier und Jetzt. Und der Übende bekommt Werkzeuge an die Hand, die es ihm ermöglichen, selbst etwas für sein Wohlbefinden zu tun und die Erfahrung zu machen, dass er nicht (mehr) machtlos ist. Scham und Selbstkritik werden durch eine achtsame Praxis und ein liebevolles In-Kontakt-Kommen mit sich selbst gemildert. Nach und nach darf sich die innere Erstarrung lösen, und der Mensch befindet sich wieder im Fluss seiner natürlichen Rhythmen. Die Philosophie des Yoga bietet auf dem Heilungsweg Orientierung und stiftet Sinn.

Wie Yoga heilt – und schaden kann.

Doch nicht immer erschließt sich die heilsame Kraft von Yoga sofort. Häufig wird der erste Besuch in einem Yogastudio für Menschen mit Trauma-Erfahrungen zu einem eher frustrierenden oder gar fürchterlichen Erlebnis. Vor anderen wiederholt korrigiert zu werden oder nicht mithalten zu können, kann das Gefühl, so, wie man ist, nicht in Ordnung zu sein, eher verstärken. Berührungen, die mit Druck ausgeführt werden oder unvorbereitet kommen, können Panik auslösen. Die Anregung, noch „tiefer“ und „weiter“ in eine Haltung zu gehen, verleitet vielleicht dazu, erneut die eigenen Grenzen zu überschreiten. Den Blick für längere Zeit in der Meditation nach innen zu richten, konfrontiert möglicherweise mit schwierigen Gefühlen und Empfindungen, bevor die notwendigen Ressourcen und Bewältigungsstrategien erschlossen wurden. Damit all dies nicht geschieht, sollten Betroffene sich an einen Yogalehrer wenden, der traumasensiblen Unterricht in der Gruppe oder im Einzelsetting anbietet und beim Entdecken und Entwickeln einer individuellen Yogapraxis kompetent begleiten kann.

Für Yogalehrer und Therapeuten gibt es inzwischen im amerikanischen, aber auch im deutschsprachigen Raum einige Möglichkeiten, sich in traumasensiblem Yoga fortzubilden. Verschiedene Bücher geben erste Anhaltspunkte, wie der Unterricht für Menschen mit traumatischen Erfahrungen gestaltet werden kann, damit er heilsam wirkt. So sollte für Personen, die Furchterregendes erlebt haben und deren Vertrauen in das Leben und die Menschen zutiefst erschüttert wurde, zunächst ein sicheres Umfeld geschaffen werden. Herumliegende Gurte können z.B. schreckliche Erinnerungen wecken. Ein gut ausgeleuchteter, ruhiger Raum bildet einen guten Rahmen, der Sicherheit vermittelt. Da Überraschungen als Trigger wirken können, sollte man hastige Bewegungen vermeiden, im Blickfeld der Schüler bleiben und sich keinesfalls von hinten an jemanden „anschleichen“ oder ihn gar ohne Erlaubnis berühren.

Vorsichtig und behutsam sollten wir auch unsere Sprache wählen: Kritik oder lautes Korrigieren vor der gesamten Klasse kann Scham auslösen, als Gewalt erlebt werden und verhindern, dass sich eine akzeptierende, liebevolle Haltung dem eigenen Körper gegenüber entwickelt. Auch ein Befehlston oder strenge Anweisungen sind unangebracht. Menschen, die eine für sie ausweglose Situation erlebt haben, sollte im Yogaunterricht vermittelt werden, dass sie eine Wahl haben und selbst entscheiden können, was sie wie lange in welcher Form üben möchten. Nur so können Achtsamkeit und Körperwahrnehmung nach und nach entwickelt werden, und die Betroffenen können die wertvolle Erfahrung machen, dass sie selbst dazu in der Lage sind, zu spüren, was ihnen guttut, zu ihrem Wohlbefinden beizutragen und ihre individuellen Grenzen zu achten.

Alternativen für Asanas und (ungefährliche) Hilfsmittel anzubieten, ist also empfehlenswert. Leistungsdruck (z.B. durch das Vorzeigen von schwierigen Asanas, durch Begriffe wie „tiefer“ und „weiter“) ist dagegen völlig kontraproduktiv. Als Lehrer sollten wir stets im Hinterkopf behalten, dass es gerade bei Menschen mit Trauma-Erfahrungen nicht um Perfektion geht, sondern darum, positive Erfahrungen mit dem eigenen Körper zu machen. „Kommt der Klient wiederholt mit positiven inneren Erfahrungen ‚in Berührung‘, entwickelt er allmählich die notwendige Zuversicht, um die innere Körperlandschaft zu erforschen und alle eigenen Empfindungen annehmen zu können, seien sie angenehm oder unangenehm, lustvoll oder schmerzlich“, so Peter Levine.


Die innere, nicht die äußere Haltung zählt.

Das Wie ist also in traumasensiblen Yogaklassen zunächst wichtiger als das Was. Egal welche Asanas vermittelt werden – dies sollte mit einer achtsamen, akzeptierenden inneren Haltung geschehen und die individuelle Wahrnehmung in den Vordergrund stellen. Grundsätzlich gilt auch, dass langsam mit dem Aufbau der Asana-Praxis begonnen werden sollte, um Frustration und Überforderung zu vermeiden. Besondere Vorsicht ist bei stark öffnenden, „verletzlichen“ und möglicherweise negativ besetzten Haltungen, wie z.B. Happy Baby, oder bei stark herz- oder hüftöffnenden Asanas, angebracht. Regina Weiser, Psychotherapeutin, Trauma-Therapeutin und Yogalehrerin aus Freiburg, die seit vielen Jahren in ihrer Praxis Yoga in der Arbeit mit traumatisierten Menschen einsetzt, empfiehlt in der Übungspraxis den Fokus zunächst auf die Stärkung der unteren Chakras (Muladhara-, Svadhishthana- und Manipura-Chakra) zu legen, da es für die Betroffenen von besonderer Bedeutung ist, Stabilität, Lebendigkeit und Vertrauen wiederzuerlangen. Darauf aufbauend werden nach und nach auch die höheren Chakras wichtiger und sollten integriert werden. Atemübungen, bei denen der Atemfluss gezählt oder beeinflusst wird, gilt es gerade am Anfang des gemeinsamen Weges zu vermeiden.

Es besteht die Gefahr, dass Panik ausgelöst wird oder die Einflussnahme auf den Atem nicht gewaltfrei erfolgt. Als besonders hilfreich haben sich dagegen fließende Yogasequenzen erwiesen, die dem Rhythmus des eigenen Atems folgen und diesen würdigen.
Dass innerhalb einer Yogastunde auch immer wieder Schüler getriggert werden, ist fast unvermeidlich. Fast alles kann zu einem Trigger werden, und gerade der eigene Körper und die innere Gefühlswelt gelten zunächst noch als „Problemzonen“.

Darauf sollte ein Yogalehrer vorbereitet sein und entsprechende Strategien (z.B. aus dem Yoga) kennen, um in solchen Situationen Halt und Sicherheit geben und bei der Stabilisierung unterstützen zu können. Übrigens sei auch Yogalehrer von „normalen“ Yogaklassen ans Herz gelegt, vorsichtig damit umzugehen, wenn jemand im Unterricht zu weinen beginnt oder stark irritiert wirkt. Nicht immer ist es dann hilfreich, dazu zu ermutigen, in diese Erfahrungen „hineinzugehen“. Für eine Person mit Trauma-Erfahrungen kann sich das nicht nur als kontraproduktiv, sondern als gefährlich erweisen.

Doch auch wenn es einige Risiken gibt, die beachtet werden sollen: Yoga gehört zu den wirksamsten Werkzeugen auf dem Heilungsweg von Menschen mit Trauma-Erfahrungen. Dies belegen viele Erfahrungen und einige seriöse Studien (z.B. von Bessel van der Kolk). Es kann von unschätzbarem Wert sein und das Leben von Menschen nachhaltig verändern und bereichern, wenn sie die Erfahrung machen dürfen, dass ihr innerster Kern nicht zerstört werden kann. Dass sie stärker und heiler sind, als sie es je für möglich gehalten haben. Und dass sie im Hier und Jetzt die Wahl haben, ihr Leben erfüllend zu gestalten. Ganz im Sinne des bekannten Zitats von Albert Camus: „Mitten im Winter habe ich erfahren, dass es in mir einen unbesiegbaren Sommer gibt.“



Literaturtipps:


Peter A. Levine:
Sprache ohne Worte, Kösel Verlag 2011

Regina Weiser, Angela Dunemann:
Yoga in der Traumatherapie, Klett-Cotta Verlag 2010

David Emerson, Elizabeth Hopper:
Trauma-Yoga, G.P. Probst Verlag 2012


Einige Hinweise für traumasensiblen Yoga


- einen sicheren Rahmen schaffen
- Varianten anbieten, Wahlmöglichkeiten betonen
- Worte für die Anleitungen bewusst wählen
- Achtsame innere Haltung betonen
- Positive Erfahrungen mit dem Körper ermöglichen
- Das Hier und Jetzt erfahrbar machen
- Mit wenigen Ausnahmen gilt: hands-off statt hands-on
- Vorsicht mit Pranayama, schwierigen und stark öffnenden Asanas

Die o.a. Liste ist eine Auswahl und nicht vollständig. Für Yogalehrer, die gerne traumasensible Klassen unterrichten möchten, ist eine entsprechende Weiterbildung empfehlenswert.

Weiterbildungen für traumasensiblen Yoga bieten u.a.:
www.traumasensiblesyoga.de
www.traumasensitiveyoga.com
www.trauma-institut.eu
www.streetyoga.org

 

Die Autorin:


Melanie Müller ist Redaktionsmitglied bei YOGA AKTUELL und freie Autorin. Sie hat Theaterwissenschaft studiert, einige Erfahrungen in der Marketing- und Medienwelt gesammelt und seit 2001 immer wieder ihre Yogamatte ausgerollt. Inzwischen ist sie selbst Yogalehrerin mit Fokus auf Einzelunterricht und Yogatherapie. Ihre Website: www.muditayoga.at